„Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“ – dieser Satz entlarvt mehr über die Absichten derer, die ihn sagen, als er Freiheit einfordert. Wer so redet, weiß, dass an die Grenzen des Sagbaren gekommen ist. Er baut einer Kritik vor, die er nicht hören möchte. Wahre Freiheit, alles sagen zu dürfen, wird gefordert; die damit verbundene freiheitliche Konsequenz, sich dann ebenfalls alles, gegebenenfalls auch Kritik, anhören zu müssen, soll geflissentlich gebannt werden. Wo kommt man schließlich hin, wenn die Grundrechte, die man sich nimmt, für alle gelten? Was glauben Sie denn?
Immer wieder kann man gegenwärtig sehen, wie schwierig das mit der menschlichen Kommunikation ist. Renate Künast etwa verliert vor dem Berliner Landgericht mit ihrer Klage gegen üble Beschimpfungen und Beleidigungen im Internet. Was da an sprachlichen Fäkalien über die grüne Bundestagsabgeordnete abgesondert wurde, lässt zwar vermuten, dass die Nachfahren der Dichter und Denker nicht mehr ganz dicht im Dach sind; das Berliner Landgericht aber meint, dass sich selbst sexistische Beschimpfungen „haarscharf an der Grenze des noch Hinnehmbaren“ bewegen würden.
Nein! So etwas kann man gerade nicht mehr hinnehmen. Eine Beschimpfung ist eine Beschimpfung und eine Beleidigung eine Beleidigung – auch wenn es Personen des öffentlichen Lebens betrifft, die aufgrund ihrer Stellung sicher in vielerlei Hinsicht ein größere Frustrationstoleranz aufbringen müssen. Was da im Berliner Landesgericht beschlossen wurde, erscheint als Freibrief, die Grenzen des Sagbaren auch im Alltag zu verschieben. Und das Internet ist voll davon.
Was wird da von erwachsenen Menschen, die offenkundig über keinen Anstand mehr verfügen, über ein 16jähriges Mädchen aus Schweden gehetzt, bloß weil sie, wie es die Art hoffentlich vieler Pubertierender ist, mit Verve und Leidenschaft, sicher manchmal etwas überschießend für ihre Sache eintritt, auch wenn jedem klar ist, dass der große Weitblick bei 16jährigen nicht unbedingt immer ausgeprägt ist. Aber hat sie prinzipiell unrecht mit ihrer Forderung, die Menschheit müsse sich dem Problem des globalen Klimawandels – sei er menschengemacht oder nicht – stellen? Nein!
Auch in der Kirche ist es oft nicht besser. Der konstruktive Streit als notwendiges Mittel des Fortschreitens in Erkenntnis und Wahrheitsfindung wird desavouiert, wenn die Ansicht Andersdenkender nicht mit Argumenten, sondern mit dem Vorwurf der Häresie, also der Irrlehre, konfrontiert wird. Wahr ist immer nur das, was man selbst denkt. Davon wird selbst der Papst nicht ausgenommen. Papsttreu kann man schließlich nur sein, wenn der Papst sagt, was ich schon meine … sonst wird sich der Papst als Häretiker verdächtigt.
Die Sprache bestimmt immer auch das Bewusstsein. Eine Gesellschaft, die aufhört, respektvoll miteinander zu streiten, kann den Menschen keine Heimat mehr sein. Es ist Zeit, sich zu bekehren und der alten goldenen Regel Jesu zu folgen: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!“ (Matthäus 7,12). Wenn man, was heute nicht selten ist, seine Schwierigkeiten mit Gott hat, kann man wahlweise auch den kategorischen Imperativ Immanuels Kants den Vorzug geben: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ – im Endeffekt läuft es auf Dasselbe hinaus: Rede nur so zu jemandem, wie Du möchtest, dass mit Dir geredet wird! Dann darf man auch alles sagen. Vielleicht lernen wir dann auch wieder von Jakobus, der, gerade weil er mit Gott ringt, spricht: „Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest.“ (Genesis 32,27) – Segnen heißt: das Gute sagen. Das wäre ein Anfang. Streitet mit harten Banden, aber segnet euch darin auch.
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der WZ Wuppertal vom 27. September 2019
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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